Jenseits von Personifikation und Personalisierung
Von Stefan Meretz
Thesen zum Workshop »Kategorien in der Kritischen Psychologie« (Do, 14:30 Uhr) bei der Ferienuni Kritische Psychologie 2010, 24.-28.8.2010, FU Berlin, Download als PDF
(1) Mit der Kritischen Psychologie haben wir den seltenen Fall einer emanzipatorischen Theorie, die nicht nur ihren bürgerlichen Counterpart kritisiert, sondern auch eine eigene »positive« Theorie konstituiert. Dialektisch gesprochen: statt bloß einfacher Negation, doppelte Negation. Dies gilt sowohl für die im engeren Sinne kritisch-psychologischen Begriffe wie für die gesellschaftstheoretischen Grundlagen, auf denen diese fußen. In der Entstehungszeit, den 70er und 80er Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, war der »positive« gesellschaftstheoretische wie praktische Bezug gegeben: Es war der Mainstream-Marxismus in Theorie und Praxis der realsozialistischen Staaten.
(2) Der Marxismus als gewordene Staatsform ist 1989 gescheitert – und mit ihm der theoretische Bezugsrahmen, der traditionelle Marxismus selbst. Davon kann man sich nicht dadurch fernhalten, in dem man auf eine damalige oder später entdeckte Ablehnung des gewordenen Staatsmarxismus verweist: Alle emanzipatorischen Ansätze sind betroffen. Das gilt auch für die Kritische Psychologie, die einen engen Bezug auf den Mainstream-Marxismus hatte – und hat.
(3) Da die gesellschaftstheoretische Grundlage mit dem Bezug auf den Marxismus für die Kritische Psychologie wesentlich ist, konnte man nicht so einfach weitermachen – sollte man aus heutiger Perspektive denken. Es wurde jedoch im Großen und Ganzen »einfach weitergemacht«. Eine Zäsur gab es nicht, es hätte sie geben müssen. Selbstverständlich gab es zahlreiche Diskussionen, Artikel und sogar einen Kongress (den vierten) zu „Erkenntnis und Parteilichkeit“, doch sie hatten im wesentlichen die Funktion, das Festhalten am Marxismus zu bestärken – „trotz alledem“ gewissermaßen.
(4) Es geht mir hier nicht darum, die Bedeutung der Marxschen Theorie für die Kritische Psychologie in Frage zu stellen, im Gegenteil, sondern darum, das, was als »Marxismus« gilt, von dem Marx bekanntlich selbst nie etwas hören wollte. Wenn man die Kritische Psychologie zur »marxistischen Subjektwissenschaft« erklärt, dann setzt man einen »Marxismus« voraus, der hier als Attribut einer anderen Wissenschaft, der Psychologie, fungieren kann. Die Haltung des »da sind wir aber immer noch« kann ich gut nachvollziehen, ich habe sie selbst vertreten.
(5) Es gibt eine umfangreiche und lange zurückreichende Diskussion über das Marxsche Werk. In den letzten Jahrzehnten etwa haben die »Neue Marx-Lektüre« und die wertkritischen Theorien aus meiner Sicht wichtige neue Impulse geliefert. Gleichzeitig sehen diese Ansätze ziemlich schlecht aus, wenn es um das Individuum geht. Sie weisen etwa die Kritische Psychologie zurück, weil sich diese auf den von ihn abgelehnten »Weltanschauungsmarxismus« bezieht. Ob zurecht oder zu unrecht: Das sind unfruchtbare Ab- und Ausgrenzungen.
(6) Ich halte es für ein gutes Kriterium, gesellschaftstheoretische Ansätze danach zu befragen, inwieweit sie die Identität von gesellschaftlichem Menschen und der menschlichen Gesellschaft auf den Begriff bringen können. Identität ist hier im dialektischen Sinne verstanden, als Identität von Identität und Unterschied, als Totalität mit ihren Momenten. Eine Gesellschaftstheorie, die sich als Theorie von der Gesellschaft im Gegensatz zu einer Theorie der Subjektivität versteht, scheitert an diesem Kriterium, genauso wie Ansätze, die ein Deduktionsverhältnis nach der einen oder anderen Seite konstruieren – etwa die Individualität als Resultante der gesellschaftlichen Bedingungen oder umgekehrt. Der Hinweis darauf, dass es gar nicht die Aufgabe einer Gesellschaftstheorie sei, einen Begriff vom Menschen zu explizieren, geht fehl, denn ohne einen Begriff von der Gesellschaftlichkeit des Menschen muss eine Gesellschaftstheorie defizitär sein.
(7) Dieses Kriterium im Kopf behaltend will ich nun die gesellschaftstheoretische Grundlage der Kritischen Psychologie problemorientiert beleuchten und ihren Zusammenhang zu den individualtheoretischen, also im engeren Sinne kritisch-psychologischen Kategorien diskutieren. Anhand von Beispielen will ich vorher herausgefundene Probleme illustrieren. Schließen will ich mit einer Skizze der Neufundierung der gesellschaftstheoretischen Grundlagen. Dies alles kann nur sehr kursorisch erfolgen, zu mehr ist hier nicht der Platz.
(8) Im traditionellen Marxismus wird der Kapitalismus als Klassengesellschaft gefasst, dessen wesentliche gesellschaftliche Entwicklungen im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital durch Klassenkämpfe bestimmt ist. Das ist, so allgemein formuliert, sicherlich richtig. Die so gefasste Analyse der immanenten gesellschaftlichen Entwicklungen des Kapitalismus wurde und wird hingegen mit einer transzendierenden, also den Kapitalismus überschreitenden Perspektive verbunden, in dem man von einem antagonistischen Verhältnis der Klassen ausging – und hier fängt das Problem an.
(9) Die Überwindung der Klassenherrschaft erfolgt durch die Machterringung der subalternen Klasse, die nun die früher herrschende Klasse in ihrer Herrschaft ablöst – was schon auf der logischen Ebene einen unauflösbaren Widerspruch hervorbringt: Das, was überwunden werden soll, die staatliche gestützte Klassenherrschaft, muss zunächst erobert und damit verstärkt werden. Die Perspektive der Befreiung aller Menschen, von Verhältnissen, in denen »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, verschwindet im Nirvana. Das Absterben des Staats, der zunächst zu ungeahnter Bedeutung aufgeblasen wird, ist ein unglaubwürdiges Versprechen für die Zukunft. In abgewandelter Form taucht die verdrehte Figur – das zu stärken bzw. zu praktizieren, was eigentlich abgeschafft werden soll – in der Kritischen Psychologie auf der individualtheoretischen Ebene erneut auf (s.u.).
(10) Das historische Scheitern genau dieser Form der Befreiung wird auf einen »Priesterbetrug« zurückgeführt: Der Gorbatschow ist‘s gewesen, der hat alles hingeschmissen – oder wahlweise andere Personen haben irgendwo Schuld auf sich geladen, weshalb der Sozialismus unterlag. Diese personalisierende Denkfigur liegt dann nahe, wenn die systematischen theoretischen Probleme immer wieder zugedeckt werden.
(11) Tatsächlich unterliegen alle Menschen im Kapitalismus den gleichen ökonomischen Formprinzipien, der gleichen Verwertungslogik, gleich ob als Käufer oder Verkäufer von Arbeitskraft. Dies geschieht selbstverständlich an unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen und in je unterschiedlichen Lebenslagen. Es ist jedoch ein Mythos, dass gegensätzliche Klassen auch unvereinbare Interessen repräsentieren, weder objektiv, noch subjektiv. Zunächst einmal sind sie daran interessiert ihre individuelle Reproduktion und Reproduktion als Klasse durch Teilhabe an den gesellschaftlichen Bedingungen abzusichern. Diese Teilhabe war für die subalternen Klassen historisch jedoch keineswegs immer gegeben, sondern sie musste gegen das bornierte Partialinteresse der herrschenden Klasse letztlich auch in deren Interesse erkämpft werden. Dieser Kampf um die partielle Emanzipation, um die Anerkennung als Rechtssubjekt im Ringen der Partialinteressen und die Realisierung zivilisatorischer Entwicklungsmöglichkeiten, wurde mit der Aussicht auf eine allgemein-menschlichen Emanzipation begründet, die jedoch im Modus des Kampfes der einen Partialinteressen gegen die anderen nicht erreichbar war und ist.
(12) Der vorgeblich antagonistische Widerspruch zwischen Kapitalisten- und Arbeiterklasse durchzieht als dichotome Denkfiguren von Herrschenden und Beherrschten, von Machthabenden und Entmächtigten, von „Bösen und Guten“ (nein, das ist kein Zitat, sondern eine eingeschummelte Implikation) die Umgehensweise mit den Kategorien der Kritischen Psychologie. Dabei wird paradoxer Weise gleichzeitig die Personalisierung und Personifizierung als Denkmuster im herrschenden Interesse kritisiert und im eigenen, emanzipatorischen Sinne reproduziert – mal sehr, mal weniger deutlich ausgeprägt.
(13) Im folgenden will ich diese These bzw. Beobachtung belegen und ihre Konsequenzen diskutieren. Ich beziehe mit dabei in erster Linie auf die »Einführung in die Kritische Psychologie« (EKP) von Morus Markard (MM) und greife dort zurück auf die »Grundlegung der Psychologie« (GdP) von Klaus Holzkamp (KH), wo dies in der EKP auch geschieht.
(14) MM »problematisiert bzw. revidiert« (zweites schließt zwar erstes ein, nicht aber notwendig umgekehrt – weshalb unklar bleibt, was von beidem) den kategorialen Status des Konzepts »restriktive vs. verallgemeinerbare Handlungsfähigkeit« und der dazugehörenden Funktionsaspekte (Emotion, Motivation, Denken etc.). Zwar sei die »doppelte Möglichkeit« kategorial bestimmt, denn so oder auch anders zu handeln sei generelle Grundlage menschlicher Handlungsfähigkeit und insofern für alle Gesellschaftsformen gültig. Dies gelte aber nicht (mehr) für die restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit als Spezifik der »doppelten Möglichkeiten« in kapitalistischen Gesellschaften (wie ursprünglich in GdP konzipiert), da der Kapitalismus »in verschiedenen Ausprägungen existiert« (EKP, 180). Einzeltheorien könnten also nur von der »doppelten Möglichkeit« als kategorialer Basis ausgehen und müssten darüber hinaus in jeweils aktuellen Bedeutungsanalysen ihren gesellschaftstheoretischen Bezug explizieren. Warum dies dann der Marxismus sein muss, bleibt im Dunkeln, von der kategorialen Basis her ist es nicht mehr begründbar.
(15) Den Grund für die Revision (so lese ich es) vermute ich im Festhalten an bzw. der Perpetuierung von überholten Marxismus-Konzepten selbst – jenen Konzepten, denen aus meiner Sicht auch die oben beschriebene paradoxe Personalisierung zuzuschreiben ist. Dies ist im Folgenden zu zeigen.
(16) Nach KH wie MM lassen sich die Lebensbedingungen als »antagonistische Klassenverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft« fassen, in denen »Arbeiter« den »Kapitalisten« ihre Arbeitskraft verkaufen, dafür jedoch nicht den vollen Lohn erhalten, sondern »unbezahlte Mehrarbeit« leisten, also ausgebeutet werden. Gleichzeitig stünden die Arbeitenden in Konkurrenz zu einander, was solidarisches Handeln erschwere und ihren »weitgehenden Ausschluss aus einer kollektiven Verfügung über die Produktion und gesellschaftliche Angelegenheiten« (EKP, 183) begünstige. Implizit ist unterstellt, dass die »Kapitalisten«, die die Verfügung über die Produktion inne haben, damit auch die gesellschaftlichen Angelegenheiten in der Hand hätten.
(17) Dieser schematische Herrschende-Beherrschte-Dualismus ist in keiner Weise (mehr) eine angemessene auch nur grob zutreffende analytische Fassung kapitalistischer Verhältnisse, die nur mehr durch eine Konkretisierung auf einen aktuellen Stand zu bringen wäre. Er übersieht völlig, dass alle Beteiligten grundsätzlich gezwungen sind, ihre jeweilige Position in einem Modus zu reproduzieren, in der die einen Partialinteressen gegen die anderen stehen. Es ist also keineswegs so, dass der »Kapitalist« sich auf seine »Ausbeutearbeit« zurückziehen kann, während der »Arbeiter« unter seinem Kommando schwitzt. Die Markt-Konkurrenz diktiert zwar nicht, in welcher Weise die Ausbeutung zu intensivieren ist – ob durch Minilöhne, Produktionsverlagerung oder neue Formen der Sklavenarbeit –, aber dass dies zu geschehen hat, ist unabweisbarer Zwang bei Strafe des Untergangs als »Kapitalist«. Dies wird deutlich, wenn die Rollen als »Kapitalist« und »Arbeiter« einmal in einem Gedankenspiel oder auch praktisch gewechselt werden bzw. ineinander diffundieren: An der universellen Logik der Verwertung, dem Verkauf von Waren – sei es der Arbeitskraft oder von Produkte derselben – ändert dies nichts, allein aus der Fremdausbeutung wird ggf. eine Selbstausbeutung.
(18) Die Unterwerfung unter den Zwangsmechanismus der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften betrifft grundsätzlich alle Menschen, allerdings in unterschiedlicher Weise. Es ist ein erheblicher Unterschied, an welcher gesellschaftlichen Position und in welcher Lebenslage »je ich« mich befinde: ob ich Millionär_in bin oder arbeitslos, gut situierliche_r Facharbeiter_in oder Hausangestellte_r ohne Papiere, Bankmanager_in oder prekär Beschäftigte_r Lehrbeauftragte_r, Bewohner_in einer Reihenhaussiedlung in der BRD oder einer Favela in Brasilien. Die Tatsache, dass wir es mit einer Klassengesellschaft zu tun haben, bedeutet jedoch nicht, dass es eine privilegierte Klassenposition gäbe, die als solche in der Lage wäre, ein Allgemeininteresse zu repräsentieren. Partialinteressen stehen gegen andere Partialinteressen, sowohl zwischen den Klassen wie innerhalb der Klassen. Solidarische Bündnisse in einer Klasse oder auch über Klassengrenzen hinweg implizieren immer, dass sie sich gegen andere Partialinteressen (-Bündnisse) gerichtet sind. Das Sich-auf-Kosten-Anderer-Durchsetzen ist universeller Bewegungsmodus, der nicht »politisch« aufgehoben werden kann, weder durch Reform, noch durch Revolution – allein das Vorzeichen kann gewechselt werden. Historische Versuche sind damit nicht zu denunzieren, schon gar nicht in ihrem subjektiven emanzipatorischen und humanistischen Anliegen, sondern sie sind in ihrer relativen partiell-emanzipatorischen Bedeutung und Reichweite nüchtern einzuschätzen.
(19) »Die Vorstellung der „scheinhaft ungesellschaftlichen ‚Privatexistenz‘ des Einzelnen“, die Verkennung der objektiven gesellschaftlich produzierten Lebenslage als eine Art natürlicher Umwelt und das damit nahegelegte „pseudokonkrete“ Absehen von gesellschaftlichen Vermittlungen« (EKP, 185, GdP-Zitat: 361) betrifft alle, also auch »den Fabrik-Inhaber Herrn Groth aus Baden-Württemberg«, der »auch zukünftig die 1200 Arbeitsplätze in Deutschland sichern« will (Werbung für T-Shirts). Es ist kein »Privileg« der Arbeitskraftverkäufer, die warengesellschaftlichen Verhältnisse als natürliche Bedingungen zu verkennen, sondern auch den Arbeitskraftkäufern erscheinen die gesellschaftlichen Verhältnisse »vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen«, die sie auch sind (Marx, Kapital, 87). Es ist erstaunlich, dass der damit ausgedrückte Warenfetisch als objektives Verkehrungsverhältnis gesellschaftlicher Vermittlung für die Kritische Psychologie keine systematische Rolle spielt, sondern als »bürgerliche Ideologie« zur Herrschaftsstrategie umgedeutet wird.
(20) Zu unterstreichen ist folgender Satz: »Ein zentraler Widerspruch für die in diesen Verhältnisse lebenden Individuen besteht darin, dass sie mit ihrer Lebensbewältigung (in Produktion und Alltag) grosso modo eben diese Verhältnisse immer wieder selber reproduzieren« (185f) Für alle Individuen und nicht nur »grosso modo«! Zu radikalisieren ist hingegen die Aussage des GdP-Zitats, das MM anschließt: »Identität der Möglichkeiten zur Sicherung/Entfaltung der eigenen Existenz … und der Beteiligung an der Reproduktion der bestehenden Klassenverhältnisse und Herrschaftsstrukturen (also faktischen Mitwirkung der ausgebeuteten Klasse an ihrer eigenen Unterdrückung)« (GdP, 364). Diese Mitwirkung geschieht nicht bloß durch eine globale Reproduktion der Klassenverhältnisse, sondern ganz konkret bis in jeweiligen Alltagspraxen hinein durch wechselseitige Drangsalierung und Behauptung auf Kosten anderer – was im Selbstfeindschaftskonzept auch theoretisch widergespiegelt ist. Das Selbstfeindschaftskonzept baut also keineswegs die (traditionelle) marxistische Gesellschaftstheorie „in ihrem eigenen inneren Zusammenhang“ (W.F. Haug) individualtheoretisch aus, sondern widerspricht ihr.
(21) Das Vermittlungsproblem zwischen gesellschaftstheorischer und individualtheoretischer Aussage ist auch MM aufgefallen: »Holzkamp resümiert seine Ausführungen über die subjektive Funktionalität des Verzichts auf Verfügungserweiterung unter Verweis auf die „doppelte Funktionalität“ bürgerlicher Ideologie: erstens: „scheinhafte Identität der herrschenden Interessen mit den Allgemeininteressen“ und zweitens die Annahme, dass mit der „Anerkennung der Macht der Herrschenden gleichzeitig die von ihnen [also den Herrschenden, nicht der Macht, M.M.] ausgehende Bedrohung der eigenen Handlungsfähigkeit abwendbar zu sein scheint“ (1983, 376)«. Die personalisierende Formulierung ist auch MM nicht geheuer, denn es geht weiter: »Holzkamp schließt daran die starke Behauptung an, dass die in der „Anerkennung der Macht der Herrschenden“ liegende Dynamik den „den Kernwiderspruch jeder [sic, M.M.] subjektiven Lebensproblematik innerhalb der bürgerlichen Klassenrealität“ ausmache.« MM fragt nun: »Aber: Kann man nicht auch daran verrückt werden, dass man diese Macht gerade nicht „anerkennt“? Ist es wirklich schon auf kategorialer Ebene ausgemacht, dass jeder Wahn, jede Depression als Kern die Anerkennung der Macht der Herrschenden hat?« Nein, das mutet tatsächlich sehr weit hergeholt an.
(22) Nur welche Folgerung ist daraus zu ziehen – eine Revision der kategorialen Basis, wie MM vorschlägt? Oder eine Abkehr von der paradox personalisierenden Konstruktion der »Herrschenden« und eine konsequente Reformulierung des Selbstfeindschaftskonzepts auf seiner eigenen Grundlage? Das aufgezeigte Problem wird nicht dadurch ermäßigt, in dem ex ante darauf hingewiesen wird, die »Herrschenden« würden »lediglich „Charaktermasken“, „Individualitätsformen“ o.ä. als Personifikationen bestimmter Instanzen innerhalb der kapitalistischen Klassenrealität« (etwa KH, FKP 26, 36) bezeichnen. Es bleibt unerklärt und damit unklar, wieso Strukturen Personifikationen brauchen, um analytisch erschließbar zu werden. So ist die Abgrenzung von Personalisierungen in bürgerlichen Konzepten fragwürdig, wenn KH schreibt: »Unsere subjektwissenschaftliche Kritik an den ausgrenzenden „Menscheneinteilungen“ der traditionellen Psychologie (…) ist … nicht durch eine als Anwendungskriterium für das Konzept „restriktive-verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“ benötigte Einteilung von Menschen in „Herrschende“ und „Beherrschte“ suspendiert« (ebd. 37). Das Konzept restriktive-verallgemeinerte Handlungsfähigkeit ist nicht ohne »Einteilung von Menschen in „Herrschende“ und „Beherrschte“« zu haben? Gibt es »schlechte« und »gute« Menscheneinteilungen?
(23) Die Konsequenzen der angeblich benötigten Menscheneinteilungen in »Herrschende« und »Beherrschte« lassen sich am Text der EKP studieren. MM kritisiert – nachvollziehbar gemäß der Personifikationslogik – die Position von KH als inkonsequent: »Wenn nun Holzkamp im Zuge seiner Explikation restriktiver Handlungsfähigkeit der „Erweiterung der gemeinsamen Macht über die Verhältnisse“ den „Versuch der Gewinnung von Kontrolle über andere Menschen in Teilhabe an der damit bestätigten Macht der Herrschenden“ (…) kategorisch entgegensetzt, schließt er damit aus, dass „Kontrolle über andere Menschen“ unvermeidbarer Teil des Kampfes gegen die „Macht der Herrschenden“ ist«. Dem Kapital seien Grenzen »aufzuherrschen«: »Dieses Aufherrschen von Grenzen von Ausbeutung und ökologischer Zerstörung zielt zwar auf gesellschaftliche Strukturen, es bedeutet aber zwangsläufig auch eine Kontrolle über andere Menschen«, die ihre Privilegien behalten wollten: »temporär« ist »die Kontrolle über andere einzukalkulieren«. Diese Argumentations- und Rechtfertigungsfigur ist aus den dunkelsten Kapiteln »links« motivierter Verfolgung von tatsächlich oder angeblich »Herrschenden« und – zwingend logisch und prinzipiell ohne Grenze – ihren Helfern bekannt. Sie spiegelt das historisch nachvollziehbare und tatsächlich auch geschichtsmächtig gewordene Anerkennungs- und Behauptungsinteresse der subalternen Klassen nach partieller Emanzipation wider. Heute ist jedoch zu erkennen, dass eine allgemein-menschliche Emanzipation damit nicht zu haben ist, sondern dieser entgegensteht.
(24) Die Kritik liefert MM sodann gleich mit, nur versteht er sie nicht als (Selbst-)Kritik der Personifikation, sondern richtet sie gegen KH und zwar gegen »die Vermischung politisch-gesellschaftlichen mit der interpersonalen Ebene dergestalt, dass gesellschaftliche Probleme wie interpersonale behandelt werden« (Herv. MM). Diese Kritik bezieht sich auf folgendes GdP-Zitat: »Da die Möglichkeit der gemeinsamen Erweiterung der Verfügung über die Lebensmöglichkeiten im allgemeinen Interesse der Erhöhung ›menschlicher‹ Lebensqualität hier [im restriktiven Modus] ausgeschlossen ist, bleibt als Grundcharakteristikum des Verhältnisses zu anderen Menschen nur das Gegeneinander unterschiedlicher Partialinteressen übrig, denen gemäß die je eigenen Lebensinteressen durch die Interessen anderer eingeschränkt sind, und ich die Verfügung über meine Lebensbedingungen nur auf Kosten der anderen erweitern kann, wobei unter kapitalistischen Bedingungen dieses Gegeneinander als bürgerliches Konkurrenz-Verhältnis formbestimmt ist« (374). In diesem Zitat werden mitnichten »gesellschaftliche Probleme wie interpersonale behandelt«, sondern eine mögliche Konsequenz einer gesellschaftlich-allgemeinen Exklusionslogik für die Handlungsfähigkeit der Individuen wird analytisch genau gefasst: Ich kann meine Handlungsfähigkeit aufrechterhalten/erweitern, in dem ich die strukturell nahegelegte Exklusionslogik der kapitalistischen Warengesellschaft für mich nutze und mich auf Kosten anderer durchsetze.
(25) Was es hier zu begreifen gilt, ist die Funktionsweise der allgemeinen gesellschaftlichen Exklusionslogik, die ohne Personifikation gesellschaftlicher Verhältnisse auskommt. Anders ausgedrückt: Herrschaftsverhältnisse sind als allgemeine Struktur der gesamtgesellschaftlichen Vermittlung zu begreifen und nicht als personifiziertes (oder gar personalisiertes) Resultat einer spezifischen Strategie »der Herrschenden« gegen »die Beherrschten«. Dies bedeutet nicht, dass Mehr-Mächtige sich nicht Strategien zur Behauptung ihrer Macht überlegen, was jedoch genauso für die Weniger-Mächtigen gilt. Entscheidend ist, zu begreifen, dass der allgemeine gesellschaftliche Vermittlungsmodus für alle der des »Gegeneinander(s) unterschiedlicher Partialinteressen« ist: »Die Modalität der Sicherung oder Durchsetzung der eigenen Partialinteressen hängt dabei vom je gegebenen Kräfteverhältnis zwischen konkurrierenden Individuen bzw. Gruppen ab: Ist das Kräfteverhältnis annähernd gleich, so wird ein Interessenausgleich nach Art eines Kompromisses (…) oder der Kompensation (…) angestrebt; soweit dagegen die eine Seite stärker ist, so kann und wird sie der anderen Seite die eigenen Partialinteressen aufzwingen« (ebd.). Die Rolle des Staates ist es, die jeweilige Exekution der Exklusionslogik sowohl im »rechtlichen Rahmen« zu halten wie dafür zu sorgen, dass tatsächlich Exkludierte ein Existenzminimum gewährt wird – je nach Konjunktur. – Dies wäre weiter auszuführen und zu zeigen, dass es nicht erforderlich ist anzunehmen, dass »die wirkliche Macht in letzter Instanz unangefochten den Herrschenden gehört« (ebd., 375).
(26) Die Abkehr von der Annahme einer privilegierten Position einer Klasse, die ein »Allgemeininteresse« repräsentiere und schließlich einmal das Richtige für alle durchsetzen werde, ist ein radikaler Schnitt. Es ist dann nicht mehr »so einfach«, sich grundsätzlich auf eine Seite zu schlagen, etwa die der »ausgebeuteten Massen« etc., weil auch diese jeweils wiederum auf Kosten anderer Ausgegrenzter ihre Partialinteressen durchzudrücken weiß. Dies haben zahllose Gender-, Queer-, Postkoloniale, Critical-Whiteness- und andere Studien gezeigt. Nicht zuletzt die kritisch-psychologischen Rassismus- und Lebensführungs-Forschungprojekte haben solche Ergebnisse erbracht, auch wenn sie noch im Rahmen des Herrschende-Beherrschte-Dualismus erfolgten, den sie inhaltlich bereits überschritten. Diese empirischen Hinweise müssen Anlass für eine Aktualisierung, allerdings nicht: Revision, zentraler Kategorien der Kritischen Psychologie sein, damit diese in der Lage sind, die wechselseitige und vielschichtige Verwobenheit von Handlungsfähigkeit im restriktiven Modus und Selbstfeindschaft in den analytischen Blick zu bekommen – ohne gleichwohl erst aktualempirisch zu erbringende Resultate vorwegzunehmen bzw. einzuschränken.
(27) Die Personifikationslogik, die immer wieder als paradoxe Personalisierung durchschlägt, ist theoretisch für das Konzept restriktive-verallgemeinerte Handlungsfähigkeit weder sinnvoll noch notwendig. Mehr noch: Der utopische Gehalt der Kritischen Psychologie im Sinne einer allgemein-menschlichen Emanzipation kann wesentlich klarer freigelegt werden, wenn auf die Personifikation gesellschaftlicher Verhältnisse konsequent verzichtet wird, weil sie als historisch überholt erkannt wurde. Dies ist in dem Maße möglich, wie die gesellschaftstheoretischen Analysen auf eine aktualisierte Grundlage gestellt werden, die ohne Personifikationen auskommt. Dies soll im Schlussteil skizzenhaft versucht werden (um endlich auch die Überschrift dieses Textes zu rechtfertigen).
(28) Wenn die These stimmt, dass Herrschaftsförmigkeit eine allgemeine Struktur der Exklusion ist, dann bedeutet Herrschaftsfreiheit ihre Aufhebung in einer allgemeinen Struktur der Inklusion. Eine solche Perspektive einer »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« wurde von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest formuliert. Diese Perspektive ist jedoch nicht ein »kategorischer Imperativ« wie MM meint (EKP, 192), ein individualisiertes Verhaltenssoll wie Kants Grenzziehung gegen die allgemeine Exklusionslogik des Kapitalismus, sondern eine recht genaue Fassung einer gesellschaftlichen Vermittlung im Modus der Identität von individuellen und allgemeinen Interessen. Grundlage einer dergestalt formulierten allgemeinen Inklusionslogik kann nur eine Produktionsweise sein, deren Funktionsprinzip eben in jener Inklusionslogik besteht. Eine solche Produktionsweise ist nicht zu erreichen durch Eroberung der Verfügungsmacht über die hergekommene Exklusionslogik, da sie nur in ihrer eigenen Logik betrieben und genutzt werden kann. Sondern eine neue Produktionsweise muss in der alten Form keimförmig entstehen, sich behaupten, sich schließlich durchsetzen und einen neuen gesamtgesellschaftlichen Vermittlungsmodus der allgemeinen Inklusion in allen gesellschaftlichen Bereichen etablieren. Dass darin gesellschaftliche Kämpfe eingeschlossen sind, liegt auf der Hand. Nur sind dies nicht Kämpfe um die Verfügung über die alte Exklusionslogik, sondern konstitutive Kämpfe zur Etablierung einer neuen Form der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion, die Exklusion als Modus der gesellschaftlichen Vermittlung ausschließt, und die mit Kämpfen um die Verteidigung der Lebensinteressen unter den alten Bedingungen verbunden sind.
(29) Diese grundsätzlich andere Form der gesellschaftlichen Transformation ist kein Wunschbild einer fernen Utopie, sondern sie entspricht erstens den bisherigen qualitativen gesellschaftlichen Umwälzungen, zweitens hat der Prozess der Transformation bereits begonnen, und drittens ist die Kritische Psychologie in der Lage dafür die individualtheoretischen Grundlagen zu formulieren. Auf die Punkte zwei und drei will ich noch kurz eingehen.
(30) Versteht man »Revolution« nicht als einen Akt der politischen Machteroberung, sondern als Prozess des qualitativen Übergangs von einer Produktionsweise zur anderen (also nicht den Übergängen innerhalb einer Produktionsweise, die es auch gibt, sondern zwischen diesen), dann hat dieser Prozess bereits begonnen (es ist hier nicht der Raum, die auch konkret zu exemplifizieren). Dabei muss man sich das Kriterium für »Qualität« in diesem Prozess klarmachen. Für kritisch-psychologisch Informierte ist es nicht schwer nachzuvollziehen (für andere »Linke« teilweise schon): Es geht um die Art und Weise der gesellschaftlichen Produktion der Lebensbedingungen und die Form der gesamtgesellschaftlichen Vermittlung. Dabei kann »Qualität« nicht auf die Frage der politischen Macht reduziert oder fokussiert werden. Die KP Chinas hat zwar die politische Macht inne, sie regiert aber ein kapitalistisches Land (der hohe staatliche Anteil an der Warenproduktion widerspricht dem nicht). »Qualität« bestimmt sich nach der Art der Produktion und der gesellschaftlichen Vermittlung. Im Kapitalismus produzieren (individuelle oder kollektive) Privateigentümer der Produktionsmittel getrennt voneinander, weshalb sie ihre Produkte tauschen müssen, womit diese Warenform annehmen. Das Kapital ist nicht als Personifikation, sondern als »automatisches Subjekt« zu begreifen, als sachlicher Mechanismus, der die sozialen Formen gesellschaftlicher Vermittlung bestimmt. Die gesellschaftliche Vermittlung, also die Form der Allgemeinheit, die sich gesellschaftlich ausbildet, kann nur als abstrakte Allgemeinheit in Form des Werts und der Erscheinungsform des Geldes dargestellt werden (dass die dominante Vermittlung über die Wertabstraktion eine parallele »unsichtbare« Vermittlung nicht in Wertform darstellbarer gesellschaftlicher Handlungsnotwendigkeiten voraussetzt, sei nur erwähnt, kann hier aber nicht ausgeführt werden). Wenn MM den Kapitalismus in einem »globalen Begriff« so zuspitzt: »Maß und Ziel der Produktion ist Profit, nicht die Befriedigung gesellschaftlicher und individueller Bedürfnisse« (EKP, 154), dann ist das zwar so allgemein formuliert richtig, aber gegenüber der Spezifik kapitalistischer Produktion und Vermittlung radikal unterbestimmt (im übrigen könnte man einwenden, dass obgleich nicht Ziel der Produktion, dennoch die Befriedigung gesellschaftlicher und individueller Bedürfnisse am Ende herausspringt – worauf bürgerliche Ökonomen stets hinweisen: eben jeweils auf Kosten anderer, deren Bedürfnisse in der globalen Exklusion nicht/weniger zur Geltung kommen).
(31) Mit den vorgenannten Kriterien lässt sich als neue Qualität einer neuen Produktionsweise entwickeln: Zum einem ist die Produktion nicht mehr getrennt und ex post über einen Markt vermittelt, sondern »unmittelbar gesellschaftlich«, und zum anderen ist der gesellschaftliche Vermittlungsmodus nicht durch eine »abstrakte Allgemeinheit«, den Wert, sondern durch eine »konkrete Allgemeinheit«, die sich frei entwickelnden Individuen, bestimmt. Wie lassen sich diese Rahmenbestimmungen von Marx genauer fassen?
(32) Unmittelbar gesellschaftliche Produktion bedeutet, dass die Bedürfnisse der Menschen direkt, ohne Dazwischenschaltung einer Instanz wie der »Kauffähigkeit« etc. die Produktion bestimmen. Die »Unmittelbarkeit« bezieht also nicht auf eine Art personaler Unmittelbarkeit (»jeder sagt, was er/die haben will« o.dgl.), sondern auf die direkt-soziale Vermittlung unterschiedlicher Bedürfnisse. Dabei geht es sowohl um die unterschiedlichen Individuen und ihre unterschiedlichen Wünsche wie um die Tatsache, dass verschiedene Bedürfnisse u.U. bei ihrer Realisierung widersprüchliche Resultate haben können (Produktverfügbarkeit vs. Energieverbrauch etc.). Unter kapitalistischen Bedingungen sind solche Widersprüche grundsätzlich aus der Vermittlung über die allgemeine Wertabstraktion ausgenommen und müssen im Nachhinein oder durch Setzung von allgemeinen Rahmenbedingungen durch den Staat geregelt werden, der gleichzeitig von gelungener Verwertung abhängt (Steuereinnahmen) etc. Schlüssel zum Verständnis einer direkt-sozialen Vermittlung der Bedürfnisse ist der sich entfaltende Mensch, der die Entfaltung der Anderen als seine Entfaltungsbedingung benötigt. Dieser grundsätzlich inklusive und reflexive Bedürfnisbezug (im Gegensatz zur strukturellen Exklusion gegenwärtig) macht es auch auf der individuellen Ebene subjektiv funktional, die »anderen Bedürfnisse« von vornherein in die Produktion mit einzubeziehen. Diese »anderen Bedürfnisse« sind damit vermittelt auch »meine Bedürfnisse«, die ich nur in der Inklusion aller zur Geltung bringen kann. Diese damit gefasste Identität von Besonderheit und Allgemeinheit, von gesellschaftlichem Menschen und menschlicher Gesellschaft mutet vom heutigen Standpunkt aus an wie Lichtjahre entfernt. Es kostet einige Anstrengung sie denkbar zu machen.
(33) Damit wurde die Form der »unmittelbar gesellschaftlichen Vermittlung« bereits mit gedacht. Herauszuheben wäre an dieser Stelle, dass der unmittelbare Einschluss der individuellen und damit gesellschaftlichen Bedürfnisse in die Produktion nicht bedeutet, dass die Dinge »unmittelbar kooperativ« geregelt würden. Ganz im Gegenteil: Der Grad an Arbeitsteilung und Vergesellschaftung der Produktion kann voll ausgeschöpft und weiter gesteigert werden, da die allgemeine Struktur der Inklusion und damit der Widerspiegelung der gesellschaftlichen Bedürfnisse an jeder »Position« vorhanden ist. Grundlage einer solchen Vermittlung ist also grundsätzlich ein Vertrauen darin, dass es prinzipiell keinen Grund gibt, sich (dann in selbstschädigender Weise) gegen die Bedürfnisse der jeweils anderen durchzusetzen. Demgegenüber ist die »Kontrolle«, ob dies auch tatsächlich ausnahmslos für alle Gesellschaftsmitglieder gilt, die Ausnahme, die in dem Maße immer weniger notwendig ist wie sich die gesellschaftlich-historische Entwicklung vollständig auf ihrer eigenen Inklusionsgrundlage vollziehen wird. Auf diese Weise kann sich auch die allgemeine Gattungspotenz, wie sie KH in der GdP bestimmt hat, voll entfalten: »Indem die Individuen beginnen, in gemeinschaftlicher Umweltverfügung ihre Lebensmittel und Lebensbedingungen selbst zu produzieren, ist hier die Existenzerhaltung der Einzelindividuen das bewusst angestrebte Ziel« (190). In dem Maße wie sich diese Gattungspotenz verwirklicht und die Menschen die Gesellschaft bewusst gestalten, endet auch die »Vorgeschichte« (Marx) der Menschheit und die wirkliche menschliche Geschichte beginnt. »Kommunismus«, will man das Wort benutzen, ist also nicht das »ganz Andere«, sondern nur das unbeschränkt zur Geltung gebrachte Menschenmögliche. Das bedeutet auch: »Kommunistisches ist in aller Geschichte« (Benjamin). Der utopische Gehalt der Kritischen Psychologie besteht darin, diese Potenz auf den Begriff gebracht zu haben – auch wenn ihr »Ziel« zunächst einmal »nur« ist, die je individuelle Handlungsfähigkeit unter kapitalistischen Bedingungen begreifbar zu machen.
(34) Eine These zum Abschluss: Der in der Kritischen Psychologie seit vielen Jahren schwelende Konflikt um die Bedeutung der je eigenen Einbezogenheit in die Unterdrückung anderer, der sich an den Debatten um sexuellen Missbrauch und die Forschungsprojekte zu Rassismus und Lebensführung zeigte, sind ein Beispiel für ein »An-einander-Vorbeireden und Scheingefechte, die den Erkenntnisfortschritt blockieren« (GdP, 31), denn: »Rational entscheidbare Auseinandersetzungen über das angemessene Gegenstandsverständnis, also die adäquate kategorial-methodologische Grundlegung eines Faches oder Wissensgebietes sind nur unter der Voraussetzung zu führen, daß über den Zusammenhang zwischen Wissenschaftsprozeß und umgreifenden Gesellschaftsprozeß … prinzipieller Konsens besteht.« (ebd, 30). Der Konsens auf der gesellschaftstheoretischen Ebene muss erst wieder hergestellt werden.