20. August 2010 | Druckansicht

Von Martin Fries

Thesen zum Workshop »Kategorien in der Kritischen Psychologie« (Do, 14:30 Uhr) bei der Ferienuni Kritische Psychologie 2010, 24.-28.8.2010, FU Berlin, Download als PDF

  1. Die folgenden Thesen sind Zweifel, ob sich tatsächlich empirisch fundierte Kategorien bilden lassen. Ich bin mir noch nicht sicher, inwieweit die folgenden Einwände schlagend sind und ob sie die Kritische Psychologie (KPs) tatsächlich treffen. Es geht mir vielmehr um das Aufstellen von Warnschildern bei der Lektüre der Grundlegung der Psychologie (GdP).
  2. Die Aussage von Holzkamp, dass „die Kritische Psychologie auf der materialistischen Dialektik und dem historischen Materialismus, wie sie von Marx, Engels und Lenin begründet wurden, beruhe“ und dass von der „inneren Einheit und Vereinbarkeit sowie der wechselseitigen Durchdringung der verschiedenen Bestandteile des Marxismus“ (GdP, 33) ausgegangen wird, muss man m.E. ernst nehmen.
    Das gesamte methodische Fundament der KPs und damit auch die Weise, auf die die kritisch-psychologischen Kategorien gewonnen werden, beruht auf dem marxistisch-leninistischen Methodenverständnis. Daher lohnt es sich m.E. dieses Verständnis anzugucken, um zu einer kritischen Prüfung der Kategorienbegründung in GdP zu gelangen.
  3. Grundlage der Methode Holzkamps sind zwei Überzeugungen:
    1. Dialektik ist die universelle und einzige Form, mit der wahre Erkenntnis möglich ist. Sie beschreibt das Bewegungsgesetz aller möglichen Gegenstände.
    2. Dialektik ist gleichbedeutend mit dem logisch-historischen Verfahren, das angeblich methodisch dem „Kapital“ zugrunde liegt.

    Aus diesen beiden Sätzen folgt, dass das logisch-historische Verfahren auch auf die Naturgeschichte angewandt werden kann und sogar muss.

  4. Das logisch-historische Verfahren besteht aus drei Komponenten:
    1. Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten
    2. Identität der begriffslogischen Rekonstruktion und der historischen Genese des Gegenstandes.
    3. Rekonstruktion der logisch-historischen (Begriffs-)Entwicklung anhand der drei dialektischen Gesetze: Einheit und widersprüchliche Dynamik („Kampf“) der Gegensätze, Umschlag von Quantität in Qualität, Negation der Negation.
  5. Dabei ist die erste Komponente insofern unproblematisch, als dass das Verfahren, einen Gegenstand von seinem Vorbegriff aus analytisch in seine Bestandteile zu zerlegen und deren Zusammenhang so herauszuarbeiten, bis das Konkrete tatsächlich begriffen ist, eine äußerst fruchtbare, wenn nicht unumgängliche Methode, komplexe Gegenstände auf den Begriff zu bringen.
  6. Die zweite Komponente trifft schon auf den Ableitungszusammenhang im „Kapital“ nicht zu – das muss uns hier aber nicht interessieren. Fraglich ist allerdings, ob sie auf die Naturgeschichte zutrifft. Ihr Kernsatz ist, dass das begriffliche Allgemeinere auch immer das historisch (genetisch) ältere ist.
  7. Ziel dieser Methode ist eine hierarchische Gliederung der psychischen Funktionsbegriffe: Funktionelle Differenzierungen, die zeitgleich aus einer älteren, übergeordneten Funktion entstanden sind, sollen über dieses Verfahren als begrifflich gleichranging gegenübergestellt werden (etwa Bedeutungs-, Wertungs- und Sozialstrukturen als Differenzierungen unspezifischer Sensibilität). Weil es sich hier um eine aus der Methode gewonnene Hierarchisierung der Kategorien, also um das Gerüst des Kategoriensystems dreht, ist diese methodische Voraussetzung ganz elementar. Sie muss also auf ihre Richtigkeit hin geprüft werden.
  8. Die erste Schwierigkeit an dieser Methode zeigt sich an der Illustration, die Morus Markard ihr gibt:„Das Verhältnis von genetisch früherem und begrifflich Allgemeinerem […] kann man sich auf der organischen Ebene folgendermaßen verdeutlichen: Dass wir uns fortbewegen können, haben wir mit fast allen Lebewesen gemeinsam […]. Auch dass wir eine Wirbelsäule haben, teilen wir mit vielen Tierarten […]. Die Differenzierung der Vorderextremitäten zu differenzierten Fingern und abgespreizten Daumen teilen wir mit sehr viel weniger Arten, und der kontinuierliche fortbewegungsentlastete Gebrauch von Händen […] ist noch spezifischer.“ (EKP 2009, 102)Ausgeschlossen von dieser „Passung“ von genetisch früherem und begrifflich allgemeinerem soll nämlich die sogenannte analoge Evolution sein, d.h. eine äußerlich gleiche Struktur, die sich auf zwei unabhängigen evolutionären Wegen entwickelt hat – wie Flügel bei Insekten, Vögeln und Fledermäusen. Würde begriffliche Allgemeinheit und gemeinsame evolutionäre Herkunft tatsächlich zusammengehören – wie Markard mit Holzkamp fordert – dann bräuchten wir tatsächlich drei Begriffe für Flügel, weil Insekten-, Vogel- und Fledermausflügel keinen gemeinsamen Oberbegriff haben dürften.Die Allgemeinheit eines Begriffes von einer organischen Struktur ist also nicht von seinem evolutionären Alter und gleichen Genen abhängig, sondern von dem Abstraktionsgrad der Beschreibung der Funktionseinheit am Organismus. Da analoge Evolution auch bei psychischen Funktionen und Verhalten vorkommt, ist dieses Argument auch auf diese Bereiche anwendbar.Das Problem verschärft sich sogar, bei Markards Illustration der historisch-logischen Identität bei psychischen Funktionen:

    „Auf der Ebene des Psychischen ist das Verhältnis von genetisch Früherem und begrifflich Allgemeinerem […] am Lernen leicht nachzuweisen. Reiz-Reaktions-Lernen […] ist eine Weise, sich der Umwelt anzupassen, die sich ›früh‹ herausbildete, die wir – als Möglichkeit – mit vielen Arten teilen. Bedeutungsvermitteltes Lernen […] dagegen entsteht viel später und ist spezifisch für den Menschen. Dass Menschen auf dem Spezifitiätsniveau »Bedeutungsvermitteltheit« lernen können, heißt allerdings nicht, dass ihnen die früheren Spezifitätsniveaus hier: (Reiz-Reaktions-Lernen) nicht mehr zur Verfügung stünden, wenn sie etwa in Situationen geraten, in denen sie darauf zurückgeworfen und darauf angewiesen sind […]. Reiz-Reaktions-Lernen ist genetisch früher und insofern begrifflich allgemeiner, Bedeutungslernen ist genetisch später und begrifflich spezifischer (und für menschliches Lernen wesentlich).“ (Ebd.)

    Allgemeiner ist hier allerdings der Begriff des Lernens, „Reiz-Reaktions-Lernen“ und „Bedeutungslernen“ sind davon aber zwei gleichrangige Unterbegriffe. Wäre „Bedeutungslernen“ der speziellere Begriff, dann müsste „Reiz-Reaktions-Lernen“ ihn mit umfassen (was wohl nicht gemeint sein soll). Markard verwechselt offenbar „begrifflich spezieller“ mit „kleinere Klasse von Gegenständen, bei denen das unter dem Begriff Gefasste vorkommt“.

  9. Diese Verwechslung resultiert daraus, dass – an empirischen Unwegbarkeiten vorbei – an der logisch-historischen Identität festgehalten werden soll. Dabei unterscheidet Holzkamp selbst zwischen drei Arten von Funktionserhalt über evolutionäre Umschläge hinweg: Funktionen können entweder (1) eine neue Qualität erhalten, (2) modifiziert werden oder sie können (3) unspezifisch erhalten bleiben. Diese drei Formen der Erhaltung von Funktionen passen aber nicht mit der Universalisierung der dialektischen „Gesetze“ zusammen. Holzkamp überbrückt diesen Widerspruch, indem er den aus der dialektischen Terminologie entlehnten Begriff der „Aufhebung“ für alle drei Formen verwendet, auch wenn er bei strikter Dialektik nur für die erste, bei weniger strikter auch für den zweiten, niemals aber für die dritte Form (Konservierung ohne Einbezug in den dialektischen Umschlag) gelten dürfte.
  10. Wenn sich die Hierarchisierung der psychischen Funktionen nicht aus dem Nachvollzug ihrer Genese aus einem einheitlichen Differenzierungsprozess ableiten lassen, dann wäre das funktional-historische Verfahren in Gänze falsch. Es diente höchstens noch zur Plausibilisierung bestimmter Zusammenhänge verschiedener Funktionen, die sich aus einer rudimentäreren Funktion herausdifferenziert haben. Lassen sich nicht alle Grundbegriffe über die funktional-historische Analyse entwickeln, wäre der Anspruch, empirisch fundierte Kategorien zu gewinnen, nicht einzuhalten.
  11. Lassen wir uns auf die Vermutung ein, dass dieser Anspruch nicht eingehalten wird, dann würde das bedeuten, dass es sich bei der funktional-historischen Analyse um eine als wissenschaftlich begründbar ausgegebene reine Spekulation handelt, die Kategorien letztlich einfach setzt. Diese Spekulation wäre dabei durch die vermeintliche Ableitung aus dem evolutionären Differenzierungsprozess verschleiert.
  12. Diese Vermutung bestärkt sich, wenn man sich ein weiteres Problem ansieht: Dieses besteht in der Rekonstruktion, die notwendig vom Entwicklungsresultat her gemacht wird (GdP 185, FN. 1). Die Reichweite dieses Problems ist mir noch nicht ganz klar. Mein Verdacht ist: Wenn vom entwicklungsgeschichtlichen Resultat aus evolutionär ältere Organismen als Vorstufen betrachtet werden, ist das Resultat immer schon in den Vorstufen wiedererkannt. Das Resultat, das wir kennen ist aber eben nicht ‚der Mensch’, sondern diejenigen Menschen, die unter heute existenten gesellschaftlichen Bedingungen leben. Damit ist aber das Projekt, das gesellschaftlich Formbestimmte als solches kennzeichnen zu können, in dem man über die Rekonstruktion zunächst das Gattungsallgemeine auffindet – vorsichtig ausgedrückt – erschwert. Die Rekonstruktion ist immer auch Rückprojektion: Ich finde das als Vorstufe, was ich als Vorstufe von dem erachte, was ich konkret suche. Während in der bürgerlichen Wissenschaft derartige Rückprojektionen leicht auffindbar sind, weil sie gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln, ist die Rückprojektion notwendiger Bedingungen, die Menschen mitbringen müssen, damit eine kommunistische Gesellschaft funktioniert nicht so offensichtlich (insbesondere nicht für Leute, die stark hoffen, dass es sich so verhält). Die Vermutung liegt zumindest nahe, dass das, was die KPs in der Gattungsgeschichte findet, auch dasjenige ist, was sie dort gesucht hat. Wenn das so ist, dann hätten wir es mit Biologismen von links zu tun.