Kritische Psychologie versteht sich als marxistische Subjektwissenschaft. Dieses Verständnis wurde entwickelt in Kritik der weltabgewandten bürgerlichen Psychologie, die in ihrem Schweigen über gesellschaftliche Verhältnisse und ihrem Selbstverständnis als Wissenschaft von Vorhersage und Kontrolle menschlichen Verhaltens als mit dem Status Quo von Herrschaft und Ausbeutung verbündet kritisiert wurde.
Gleichzeitig hat sich dieses Verständnis abgegrenzt von marxistischen Strömungen, die mit der Analyse der Verhältnisse alle Fragen übers Subjektive beantwortet sahen – gerne verbunden mit der Verballhornung der sechsten Feuerbachthese, die angeblich den Menschen als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen hatte. Dagegen nimmt Kritische Psychologie Marx’ These ernst, dass das menschliche Wesen kein dem Individuum innewohnendes Abstraktum ist. Die Gesellschaftlichkeit des Menschen wurde in einer Rekonstruktion der (phylogenetischen) Menschwerdung auf den Begriff gebracht und ihre Bedeutung für die psychischen Aspekte (und psychologischen Begriffe) erarbeitet.
Gesellschaftstheoretische Bestimmungen sind an mindestens zwei Stellen von zentraler Bedeutung für Kritische Psychologie: Bei der Entwicklung von Begriffen / Kategorien, die die Widersprüchlichkeit kapitalistischer Vergesellschaftung und ihre psychischen Kosten potenziell fassbar machen sollen. Die polar angelegten Begriffe restriktive / verallgemeinerte Handlungsfähigkeit mit den entsprechenden psychologischen Aspekte (Deuten / Begreifen, innerer Zwang / Motivation, Innerlichkeit / Emotion, Instrumentalbeziehungen / Intersubjektivität) sollen diese – empirisch verquickten – Momente denkbar und der theoretischen wie Selbst-Aufklärung zugänglich machen. In sie sind allgemeinste Momente kapitalistischer Vergesellschaftung eingegangen, die Holzkamp dem Kapital von Marx entnommen hat.
Darüber hinaus sind konkret gesellschaftliche Analysen, Bedeutungs- und Institutionenanalysen relevant für Theoriebildungen über Erleben und Handeln. Diese Analysen sind konkret – bezogen auf Konstellationen, Periodisierungen innerhalb des Kapitalismus, Politiken. Ob sie für jeweilige Begründungszusammenhänge der Betroffenen relevant sind, lässt sich ebenfalls nur in konkreten Analysen vom Standpunkt der Betroffenen aus rekonstruieren.
Im Kongress Kritische Psychologie 1997 wurden die Bezugnahmen auf marxsche und marxistische Analysen gegen den postmodernen Zeitgeist betont, der Kritik zunehmend in den Duktus von konkreten Verbesserungen oder intellektueller Selbstbespiegelung gestellt hat. Gleichzeitig wurde argumentiert, dass vor allem die auf konkrete, empirische Aspekte bezogenen Analysen von gesellschaftlichen Verhältnissen einen fortdauernden Rekurs auf gesellschaftstheoretische und –analytische Arbeiten notwendig macht. Auch die „allgemeinsten Merkmale kapitalistischer Vergesellschaftung“ sind daraufhin zu befragen, ob ggf. zeitgebundene Ausprägungen kapitalistischer Gesellschaften als allgemeinste Merkmale missverstanden wurden.
Vor diesem Hintergrund wollen wir auf der Ferienuni der Frage der Gesellschaftstheorien und ihrer Bedeutung für die Kritische Psychologie (mindestens) in den folgenden Aspekten nachgehen:
- Welche Bedeutung haben verschiedene Phasen innerhalb des Kapitalismus? Mit welchen Begriffen werden sie verstanden, was macht die Bedeutung für Kritische Psychologie aus? Z.B.: Begriff der Produktionsweise in den verschiedenen Bedeutungen, Gramscis Vorstellung der umkämpften „Produktions- und Lebensweisen“
- Gehen in die Begriffsbestimmungen „fordistische“ Zeitdiagnosen ein?
- Marx-Verständnis und Rezeption in der „Grundlegung der Psychologie“
- Was macht die aktuelle Produktionsweise aus? Welche unterschiedlichen Theoretisierungen gibt es? Was legt sie den Einzelnen als Selbst- und Weltverhältnis nahe? Wie werden Subjekte in den verschiedenen theoretischen Entwürfen gedacht?
- Wie werden diese gesellschaftlichen Anforderungen in anderen psychologischen Theorien reflektiert?
- Wie verhalten sich Psychologie- und Gesellschaftskritik zueinander?