Paradigmenwechsel in der Psychologie?
Die Psychologie orientiert sich derzeit um. Sie bietet sich als Integrationswissenschaft für die Neuro- und Biowissenschaften an, Gehirnscanner werden angeschafft und Lehrstühle für Neurokognitive Psychologie etabliert. Sie stehen für die Hoffnung, Skinners „black box“ in Zukunft auslesen zu können und schließlich das Leib-Seele-Problem zu lösen.
Das Psychische wird dabei mit dem von außen, physikalisch oder biochemisch Messbaren identifiziert und dadurch menschliche Subjektivität systematisch verfehlt. Die Methoden und Konzeptionen werden dem naturwissenschaftlichen Paradigma mit seinen Tierexperimenten, positivistischen Objektivitätsvorstellungen und Bedingtheitsdiskurs entliehen, und durch das erneute Primat auf die Grundlagenforschung der Theorie-Praxis-Bruch weiter vertieft. In der Konsequenz werden psychische Phänomene und Probleme auf neurobiologische oder sogar genetische Ursachen heruntergebrochen, ihre gesellschaftliche Dimension wie alternative Problemdeutungen werden ausgeblendet.
Ein solcher Biologismus reduziert nicht nur menschliche Subjektivität auf Zellprozesse, er legitimiert zugleich die Ungerechtigkeit gesellschaftlicher Strukturen, wo er soziale Ungleichheit auf biologische Differenzen zurückführt. Wir wollen aus der Perspektive der Kritischen Psychologie diskutieren, welche Implikationen und Konsequenzen die neurokognitiven, genetischen und biopsychologischen Konzepte für Kategorien, Methoden und Theorien sowie für die psychologische Praxis bzw. die mit dieser konfrontierten Subjekte haben.
Eingriffspunkt und Fragestellungen
Nach Computertechnologie und Genomforschung haben jetzt die Neurowissenschaften die Rolle der Leitwissenschaft übernommen. Sie sollen den Schlüssel zum Geheimnis „Mensch“ lösen. Soweit Bewusstsein ihr Gegenstand ist, betrifft dies unmittelbar das Feld der Psychologie. Während aus der Hirnforschung Stimmen laut werden, dass die Psychologie als eigenständige Disziplin in der Zukunft überflüssig wird, springen ihre Fachvertreter und -vertreterinnen auf den fahrenden Zug der Innovationen auf und bieten sich als Integrationswissenschaft der neuen, noch sehr heterogenen Forschungsrichtung an. In einer Blitzgeschwindigkeit werden Lehrstühle für Neurokognitive Psychologie an bundesdeutschen Universitäten etabliert und die notwendigen Gehirn-Scanner (funktionelle Magnetresonanztomographen) angeschafft. Sie stehen für die Hoffnung, Skinners „black box“ in Zukunft auslesen zu können, um so einzelne psychische Funktionen besser zu verstehen und nebenbei die große Frage des Faches, das Leib-Seele-Problem, zu lösen.
Die Genomforschung, an die sich diese Hoffnungen zuvor geknüpft haben, ist dabei etwas in den Hintergrund getreten. Sie bleibt jedoch ebenfalls Bezugspunkt einer biologischen Fundierung der Psychologie, wie Versuche, die Entwicklungspsychologie mit der Genomforschung zu einer Entwicklungswissenschaft zu verbinden, zeigen. In den interdisziplinär angelegten großen Forschungsprojekten werden die Gehirnscans zusätzlichmit DNA-Analysen verbunden, Neuro- und Biowissenschaften zusammengeführt.
Die Psychologie stellt hierfür die übergreifenden Konzepte wie Kognition, Emotion, Motivation, Lernen bereit – zuvor gereinigt von den historischen Kontroversen um diese und auf die jeweilige neurowissenschaftliche oder genetische Fragestellung zugeschnitten. Die Methoden und Konzepte für deren Erforschung werden so dem naturwissenschaftlichen Paradigma mit seinen Tierexperimenten, positivistischen Objektivitätsvorstellungen und reduktionistischen Kausalvorstellungen entliehen. In der Folge wird die Erklärung psychischer Phänomene und Probleme auf neurobiologische oder sogar genetische Prozesse heruntergebrochen, und der Bedingtheitsdiskurs als Modus der Forschung in der Psychologie fortgeschrieben. Mit dem Primat auf die biologische Grundlagenforschung wird der Theorie-Praxis-Bruch in der Psychologie zudem neu vertieft und Therapie wie Intervention dem medizinischen Krankheitsmodell unterworfen.
Was bedeutet diese Entwicklung für eine Subjektwissenschaft, für die die biologische Grundlage des Psychischen zwar eine nicht zu hintergehende Voraussetzung aber nicht der privilegierte Zugang zum menschlichen Bewusstsein ist?
Die Kritische Psychologie bezieht sich in ihrer funktional-historischen Herleitung ihrer Kategorien aus der Psychophylogenese ausdrücklich auf biologische und anthropologische Forschung und die durch diese beschriebene Entwicklung der Sinnesorgane und Hirnstrukturen, hat aus dieser historisch-empirischen Perspektive jedoch die Gleichsetzung neurophysiologischer Prozesse mit dem Psychischen als strukturellen Reduktionismus zurückgewiesen. Ein solcher Biologismus blendet die gesellschaftliche Vermitteltheit subjektiver Probleme Einzelner aus und führt diese stattdessen auf Unterschiede in ihrer individuellen biologischen Konstitution zurück. So kann die Ungerechtigkeit gesellschaftlicher Strukturen und die durch diese bestimmte soziale Ungleichheit legitimiert werden. Zugleich werden aber auch die konkreten subjektiven Probleme der Einzelnen vom neurowissenschaftlichen Außenstandpunkt her entnannt.
Wir wollen diskutieren, welche Implikationen und Konsequenzen die neurokognitiven, genetischen und biopsychologischen Konzepte für Kategorien, Methoden und Theorien sowie für die psychologische Praxis bzw. die mit dieser konfrontierten Subjekte haben. Ist die die neurokognitive Psychologie aus subjektwissenschaftlicher Perspektive lediglich eine Neuauflage des alten Biologismus? Wie steht die kritisch-psychologische Fassung von der Begründetheit menschlichen Handelns zu den Debatten um den Freien Willen? Welche neuen Formen der Biologisierung und Medikalisierung ziehen mit dem Boom der Genom- und Hirnforschung in die psychosoziale Praxis wieder ein? Wie werden medizinisch bzw. biologisch begründete Diagnosen plausibel gemacht und welche alternativen Problemdeutungen werden durch sie ausgeblendet?