Die Gesellschaft für subjektwissenschaftliche Forschung und Praxis lädt ein zu einem Vortrag mit Diskussion
Priv.-Doz. Dr. Reiner Seidel: Was ist subjektwissenschaftliche Psychologie?
Mittwoch, 30. März 2011, 19.30 Uhr im Gebäude der Rosa Luxemburg-Stiftung, Franz-Mehring-Platz 1, 1. Stock, Raum 07
Reiner Seidel hat der GsFP zur Vorbereitung diesen Text zukommen lassen:
Im Zusammenhang mit Konzeption und Auswertung von Interviews habe ich mir die Frage gestellt, unter welchen Kategorien Lebenskonzeptionen von Individuen zu betrachten seien¹. Dieselbe Frage erweist sich mir ebenso als grundlegend, seit ich einige Praxistätigkeit – nach langer Zeit wieder – aufgenommen habe. Ich verstehe mich als „subjektwissenschaftlich“ orientiert. Dies beinhaltet für mich die Devise:
Von der betreffenden Person selbst (Klient, Patient oder was auch immer) ausgehen, keine äußeren Maßstäbe an sie herantragen, keine „Diagnosen“, keine Schubladen, keine „man sollte doch…“ usw.! Maßgeblich sind nur die Prämissen, unter denen die Person ihr Leben führt. Also: Psychologische Praxis heißt zunächst: Ich muss eruieren, wie das Subjekt die Welt sieht, und dabei nach Möglichkeit davon absehen, wie ich die Welt sehe.
Holzkamp hat diesen Gedanken m. E. treffend (wenn auch ein wenig zu kognitiv) in seiner Relativierung des Begriffs des „Rationalen/Irrationalen“ charakterisiert (Pullover-Beispiel).
Unter dieser Prämisse: „den Standpunkt der Ersten Person einnehmen!“ ist mir nun allerdings die Kategorie der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit (vH) fragwürdig geworden. Wenn ich einen Anderen unter dem Gesichtspunkt betrachte, ob er verallgemeinert oder eher (nur) restriktiv handlungsfähig sei, so mag das so oder so zutreffen, aber: Bin ich dann wirklich bei ihm oder bin ich nicht eher bei meinem (eventuell gesellschaftstheoretisch durchaus zutreffenden) Weltbild?
Beispiel: Herrn X geht es psychisch schlecht, und ich sehe: sein Chef (oder sein Lebenspartner oder wer sonst) verhält sich unterdrückerisch, ich erkenne sein Verhalten also als „restriktive Handlungsfähigkeit“. Aber was ist, wenn Herr X das durchaus nicht so sieht? Er ist überzeugt, dass seine Lebensbedingungen durchaus in Ordnung sind und dass sein Leiden aus ihm selbst kommt. Also: die Kategorie der vH bringt uns nicht weiter. Genauer: ob ich die Kategorie vH nutzen kann, hängt davon ab, welchen Sinn die Person X selbst der vH (faktisch) gibt. Fazit: die Kategorie der vH ist eine gesellschaftstheoretische oder eine „emanzipatorische“ Kategorie, aber eben nicht eine „subjektwissenschaftliche“.
Unter diesem Aspekt möchte ich das holzkampsche Apriori: „Niemand kann sich bewusst selbst schaden“, dem ich dem Gehalt nach voll und ganz zustimme, umformulieren, nämlich in: „Niemand kann ohne subjektiven Sinn handeln“.
Diese Überlegungen stellen allerdings eine Grundannahme der Kritischen Psychologie in Frage. Gehört zum Wesen des Menschen wirklich das Bedürfnis nach Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen („Kontrollbedarf“), das ja dem Konzept der vH zugrunde liegt? Anders gefragt: Arbeitet ein Mensch, der diesen Kontrollbedarf nicht verspürt und nicht realisiert oder gar negiert, wirklich gegen sich selbst? Wenn dem so wäre, so müsste man etwa einem Buddhisten, der nach der Erleuchtung strebt und jede politische Intervention verabscheut, die vH und somit die volle Realisierung der Potenz des Menschseins absprechen. Nein! Mein Buddhist handelt subjektiv sinnvoll – mit „vH“ kann man ihm nicht beikommen.
Reiner Seidel hat bei Klaus Holzkamp promoviert und sich bei ihm habilitiert. Wissenschaftlich tätig war er an der TU und an der FU Berlin. Dort wurde er 2006 als Professor im Arbeitsbereich Subjektwissenschaft und Kritische Psychologie „zwangsberentet“. In den letzten Jahren beschäftigt er sich mit Lebenskonzepten (Interviews). Zur Zeit schreibt er an einem Buch „Grundbegriffe der Psychologie“, in dem er natur- und geisteswissenschaftliche Psychologie zusammenbringen will.
¹Seidel „Das existentielle Interview“, Journal für Psychologie 2005, S. 255-2722